- Hohes Potenzial lockt Investoren und Entrepreneure gleichermaßen
- Experten prognostizieren Konsolidierungswelle und veränderte Geschäftsmodelle
- Automatisierung als Schlüssel für Profitabilität
Quick Commerce: Schnell? Ja! Profitabel? Nein!
(Marchtrenk, 30. August 2022) Die Zahl der Spezialisten für online bestellte und schnell gelieferte Lebensmittel (Quick Commerce) stieg in den letzten Monaten rasant. Doch nur die wenigsten sind auch profitabel. Experten wie der Wissenschaftler Dr. Matthias Schu und Dr. Michael Schedlbauer (Vice President Business Development Grocery) prognostizieren eine Konsolidierungswelle und veränderte Geschäftsmodelle. Automatisierung ist in ihren Augen ein entscheidender Hebel, wenn es um Profitabilität und langfristigen Erfolg im Online-Lebensmittelhandel geht.
„Schneller als Du“: Mit diesem Slogan wirbt 2020 das Start-up Gorillas in Berlin für seinen Service – nämlich Lebensmittel und andere Supermarktwaren, die über eine App bestellt werden, per Fahrradkurier zu liefern –, zu den gleichen Preisen wie im Laden plus Zustellkosten von 1,80 Euro und allfälligem Mindermengenzuschlag. Dafür, so das Versprechen, ist die Ware binnen zehn Minuten nach Bestelleingang beim Kunden.
KOMMISSIONIERUNG ALS ERFOLGSKRITISCHE VARIABLE
Egal, bei welchem Modell: Alle Akteure im Quick Commerce wollen profitabel agieren, eher früher als später. Doch das ist leichter gesagt als getan. Denn die Branche ist geprägt durch geringe Margen und hohe Personalkosten sowie durch Krisenstimmung durch ausbleibendes Investorengeld. Eine Herausforderung ist der hohe Kostenanteil für das Picking und die Auslieferung. Laut einer Studie von Capgemini aus dem Jahr 2018 betragen die Aufwände für die „Letzte Meile“ 46 Prozent der Gesamtkosten. Damit Unternehmen trotzdem eine Chance haben, in die Gewinnzone zu kommen, gibt es den beiden Experten zufolge fünf Stellschrauben:
- Höhe des Warenkorbs: Eine Option ist die Einführung eines Mindestbestellwerts. Dieser darf aber laut Schu nicht zu hoch sein, weil sonst Kunden verloren gehen. Auch eine Sortimentsoptimierung, beispielsweise durch das Angebot margenstarker Artikel, ist sinnvoll.
- Höhe der Liefergebühr: Generell gilt im Quick Commerce, dass die Liefergebühren nicht die Zustellgebühren decken. Laut Schedlbauer können die Unternehmen aktuell die Aufschläge für Lieferungen noch mitnehmen. Langfristig rechnet er aber damit, dass es keine starren Gebührenlisten gibt. Eine Lösung sei das dynamische Pricing nach dem Vorbild der Airlines.
- Erzielen von Werbekostenzuschüssen: Was im stationären Handel bereits Usus ist, wird im Quick Commerce (noch) nicht vollständig umgesetzt. Branchenexperte Schu hält die Empfehlung von Produkten auf Apps oder Webseiten für eine gute Idee, um zusätzliche Erlöse zu generieren.
- Effizienzsteigerung auf der letzten Meile: Klassische Hebel wie eine möglichst hohe Anzahl von Stopps pro Stunde sind bei Lieferzeiten von weniger als 15 Minuten kaum zu realisieren: Bei solchen Versprechungen sind teure 1:1-Fahrten nötig. Schu glaubt, dass sich die Lieferzeiten bald verlängern – und dann Fahrtenkonsolidierungen und der Einsatz von Routenplanungssoftware Optionen sind. Autonome Auslieferungen mit Robotern hält Schu in den kommenden fünf Jahren hierzulande noch nicht für denkbar.
- Effizienzsteigerung beim Picking: Grundsätzlich gibt es im Vergleich zum klassischen Retail oder E-Food-Bereich wenig Potenzial. Eine umfassende Automatisierung ist bei einer geringen Artikelanzahl und einem kleinen Lager kurz- bis mittelfristig finanziell nicht interessant. Retail-Experte Schedlbauer ist dennoch der Ansicht, dass in Hochlohnländern Automatisierung im Fulfillment stattfinden muss, damit Unternehmen profitabel werden und bleiben. Die Automatisierung von großen Distributionszentren oder einem Netz von Micro Fulfillment Centern (MFC) ist dem Fachmann zufolge der richtige Weg. Neue Player zwingen die „klassischen“ Omni-Channel-Händler dazu, kürzere und flexiblere Lieferzeiten als aktuell üblich anzubieten. Drei Stunden hält Schedlbauer für „gut machbar“, 60 Minuten werden bereits ökonomisch herausfordernd, da die Bündelung von Lieferungen auf der letzten Meile immer ineffizienter wird. Wer extrem schnelle Lieferungen binnen Minuten anbiete, müsse eine Direktlieferung aus der Filiale planen – mit einem entsprechenden Preis.
Konsolidierungswelle
Sowohl Schu als auch Schedlbauer sind überzeugt, dass Quick Commerce ein Hype ist und wir am Anfang einer Konsolidierungswelle stehen. „Momentan hoffen viele Anbieter, dass sie von einem anderen Player übernommen werden“, berichtet Schedlbauer. Er geht davon aus, dass sich die Lieferzeiten bald auf 30 bis 45 Minuten ausdehnen und diese schnellen Lieferungen dann als Premiumservice angeboten werden. Ketten wie beispielsweise Rewe würden sehr schnelle Premiumbelieferungen aus dem Laden realisieren, den Rest aus dem Lager. Seiner Ansicht nach können langfristig vor allem die großen Anbieter bestehen, die mit Lieferdiensten kooperieren. Letztere profitieren von dem Modell, weil sie bei temporär geringerer Nachfrage nach Lebensmitteln auch andere Waren – etwa Blumen, Drogerieartikel oder Pizza – zustellen und damit ihre Mitarbeiter besser auslasten.