(Marchtrenk, 30. August 2022) Die Zahl der Spezialisten für online bestellte und schnell gelieferte Lebensmittel (Quick Commerce) stieg in den letzten Monaten rasant. Doch nur die wenigsten sind auch profitabel. Experten wie der Wissenschaftler Dr. Matthias Schu und Dr. Michael Schedlbauer (Vice President Business Development Grocery) prognostizieren eine Konsolidierungswelle und veränderte Geschäftsmodelle. Automatisierung ist in ihren Augen ein entscheidender Hebel, wenn es um Profitabilität und langfristigen Erfolg im Online-Lebensmittelhandel geht.
„Schneller als Du“: Mit diesem Slogan wirbt 2020 das Start-up Gorillas in Berlin für seinen Service – nämlich Lebensmittel und andere Supermarktwaren, die über eine App bestellt werden, per Fahrradkurier zu liefern –, zu den gleichen Preisen wie im Laden plus Zustellkosten von 1,80 Euro und allfälligem Mindermengenzuschlag. Dafür, so das Versprechen, ist die Ware binnen zehn Minuten nach Bestelleingang beim Kunden.
Quick Commerce nennt sich das Geschäftsmodell im Fachjargon. Es basiert primär auf dem 2013 in Philadelphia gegründeten US-Vorbild goPuff – auch wenn die Grundidee deutlich älter ist und bereits 1998 Premiere feierte. Die Strategie wurde weltweit von zahlreichen Start-ups übernommen, darunter Flink, Weezy, Getir oder eben Gorillas.
Treiber der Nachfrage im Quick Commerce war die Corona-Pandemie. Sie wirkte wie ein Wachstumsbeschleuniger für alle Akteure im Lebensmittel-Onlinehandel (E-Food), der im deutschsprachigen Raum im Vergleich zu Großbritannien bisher eher ein Schattendasein fristete. Experten teilen das Segment in mehrere Untersegmente, die sich allerdings mehr und mehr vermischen: reine Online-Player (z.B. Rohlik oder Picnic), Omni-Channel-Händler (z.B. Rewe, Billa oder Coop), Restaurant Delivery (z. B. Delivery Hero), Kochboxlieferanten (z.B. Hello Fresh) und weitere Spezialisten oder Nischenplayer (z.B. Frischepost, Flaschenpost oder auch KoRo).
Da das E-Food-Segment in den vergangenen Jahren hohe zweistellige Wachstumsraten erzielte, wird es von Risikokapitalgebern bereits als neuer „Megatrend“ gehandelt. Weltweit wollen immer mehr Unternehmen und Start-Ups einen Teil des Kuchens abbekommen. Doch Fakt ist auch: Gerade im Quick Commerce werden bestehende Geschäftsmodelle in der Regel nur kopiert. „Die Copycats werden es schwer haben, weil selbst in Städten mit mehr als 200.000 Einwohnern nur für zwei Anbieter Platz ist“, sagt Branchenkenner Matthias Schu. Der E-Food-Experte doziert an der Hochschule Luzern und verfasste „Das E-Food Buch“ und den „Quick Commerce Report“.
Für seinen Report erarbeitete er eine Marktpotenzialschätzung für den deutschen Quick Commerce-Markt im Jahr 2030. Ergebnis: Insgesamt ergibt sich in 40 Städten mit mehr als 200.000 Einwohnern ein Potenzial von 33,6 Milliarden Euro – pessimistisch geschätzt. Zahlreiche Entrepreneure sehen großes Potential bei niedrigen Einstiegshürden und gründeten Start-Ups, deren Services sich durch mehrere Merkmale auszeichnen:
Für seinen Report identifizierte Schu die Stellschrauben für die Profitabilität. Viele Player pumpen das Geld ihrer Investoren in Marketingkampagnen und die Expansion im urbanen Raum, bewegen sich aber aktuell in den roten Zahlen. Prinzipiell lassen sich Schu zufolge zwei Modelle erkennen: Zum einen der sogenannte Stand-Alone-Ansatz, bei dem die Firmen die gesamte Wertschöpfungskette kontrollieren. Sie betreiben Lager oder Darkstores, lassen eigene Mitarbeiter kommissionieren und die Waren mit ihren Fahrern (sogenannten Riders) ausliefern. Beispiele hierfür sind etwa Flink, Mjam oder Getir.
Zum anderen findet man den Plattform-Ansatz, in dem der Anbieter als „Orchestrator“ agiert. Innerhalb der Wertschöpfungskette führt er die vermeintlichen Kernaufgaben selbst aus, die restlichen Prozesse werden mit Partnern koordiniert. Beispiele sind Instacart und bringoo. Insbesondere Warenlagerung und Sortimentspolitik überlässt man Lebensmittelhändlern, in deren Geschäften die Bestellungen kommissioniert werden – im Fachjargon nennt sich das der „asset-light“-Ansatz. Er hat laut Schu seinen besonderen Charme darin, dass sich theoretisch eine Mischung aus verschiedenen Angeboten und Händlern unter einem Dach bündeln lässt und das Warenrisiko beim Handelspartner bleibt.
Die Vorteile: mehr Auswahl für den Kunden, eine bessere Fixkostenverteilung für den Plattformanbieter sowie die Erschließung weiterer Erlösströme, beispielsweise in Form von Umsatzbeteiligung. Wenn Partner wie etwa Bäckereien oder Blumenläden eingebunden werden, lassen sich auch Kunden adressieren, die das lokal typische Sortiment suchen, aber die Vorzüge einer schnellen Lieferung schätzen. Michael Schedlbauer, Experte im Bereich Lebensmitteleinzelhandel bei TGW, ist überzeugt, dass das Plattformmodell prinzipiell vorteilhafter ist als die Stand-Alone-Lösung, „weil es in der Regel die Chance auf größere Warenkörbe aufgrund des breiten Artikelspektrums und weitere Einnahmequellen bietet. Allerdings braucht es Partner, um erfolgreich zu sein.“
Egal, bei welchem Modell: Alle Akteure im Quick Commerce wollen profitabel agieren, eher früher als später. Doch das ist leichter gesagt als getan. Denn die Branche ist geprägt durch geringe Margen und hohe Personalkosten sowie durch Krisenstimmung durch ausbleibendes Investorengeld. Eine Herausforderung ist der hohe Kostenanteil für das Picking und die Auslieferung. Laut einer Studie von Capgemini aus dem Jahr 2018 betragen die Aufwände für die „Letzte Meile“ 46 Prozent der Gesamtkosten. Damit Unternehmen trotzdem eine Chance haben, in die Gewinnzone zu kommen, gibt es den beiden Experten zufolge fünf Stellschrauben:
Sowohl Schu als auch Schedlbauer sind überzeugt, dass Quick Commerce ein Hype ist und wir am Anfang einer Konsolidierungswelle stehen. „Momentan hoffen viele Anbieter, dass sie von einem anderen Player übernommen werden“, berichtet Schedlbauer. Er geht davon aus, dass sich die Lieferzeiten bald auf 30 bis 45 Minuten ausdehnen und diese schnellen Lieferungen dann als Premiumservice angeboten werden. Ketten wie beispielsweise Rewe würden sehr schnelle Premiumbelieferungen aus dem Laden realisieren, den Rest aus dem Lager. Seiner Ansicht nach können langfristig vor allem die großen Anbieter bestehen, die mit Lieferdiensten kooperieren. Letztere profitieren von dem Modell, weil sie bei temporär geringerer Nachfrage nach Lebensmitteln auch andere Waren – etwa Blumen, Drogerieartikel oder Pizza – zustellen und damit ihre Mitarbeiter besser auslasten.